Füße auf Schwebebalken

Hintergrund Sexualisierte Gewalt im Sport: Aufarbeitung erst am Anfang

Stand: 13.10.2021 08:00 Uhr

Am 13. Oktober 2020 veranstaltete die Kommission zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in Berlin eine Anhörung zum Thema "Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Sport". Ein Jahr danach gibt es erste Fortschritte, aber auch noch viel zu tun.

"Nach diesem einen Jahr bin ich motivierter denn je", zieht Gitta Schwarz eine positive Bilanz. Die ehemalige Reiterin gehörte vor einem Jahr zu drei Betroffenen, die ihre Geschichte bei dem Hearing in Berlin öffentlich machten. Sie hatte geschildert, dass sie als Teenager von ihrem Reitlehrer sexuell missbraucht worden war. In Reitställe zu gehen, falle ihr noch heute schwer, erzählt sie, die Erinnerungen an die sexuellen Übergriffe kämen dann – auch Jahrzehnte danach - immer wieder hoch.

Betroffenenrat im Reitsport

Längst hat sie den Sport an den Nagel gehängt. Damit habe ihr der Täter das genommen, was sie am meisten liebte. Dass sie vor einem Jahr in Berlin an die Öffentlichkeit gegangen ist, bewertet sie für sich positiv: "Weil es einfach befreiend war und immer noch befreiend ist, die schlechten Erfahrungen jetzt einfach umzukehren, es zu Wut und Motivation werden zu lassen und Energie zu schöpfen aus dem, was geschehen ist."

Diese Energie bringt sie inzwischen aktiv ein. Die Deutsche Reiterliche Vereinigung FN, mit knapp 680.000 Mitgliedern der achtgrößte Sportverband in Deutschland, ist der erste deutsche Sportverband der einen Betroffenenrat eingerichtet hat. Auch aus der Erkenntnis heraus, die sich spätestens seit der Veranstaltung in Berlin auch im Sport mehr und mehr durchsetzt: Es geht darum, mit den Menschen zu reden, die im Sport sexuelle Übergriffe erfahren haben, statt über sie.

Vom Verband ernst genommen

Gitta Schwarz ist nun eines von neun Mitgliedern in diesem jungen Gremium. Sie sind die ersten Betroffenen sexualisierter Gewalt Sport, die ihre Erfahrungen einbringen und so ihren Verband beraten in seinem Umgang mit dem Thema und den Betroffenen. "Alle, die sich außer mir dort engagieren, sind noch im Sport aktiv. Wir wollen dort etwas verändern und wir alle sind motiviert, etwas für die Betroffenen zu tun. Die nächste Aufgabe, die wir jetzt haben ist, einen Weg zu finden, wie wir die Öffentlichkeit erreichen können", sagt Schwarz.

Seit sich der Betroffenenrat konstituiert hat, sind die Mitglieder im regelmäßigen Austausch und versuchen nun, Wege und Ziele ihrer Arbeit festzulegen. Sie fühle sich vom Verband ernst genommen in der noch jungen Arbeit, sagt Gitta Schwarz, sonst würde sie ihre Expertise auch gar nicht zur Verfügung stellen. Dieser erste Betroffenenrat in einem deutschen Sportverband ist ein greifbares, reales Ergebnis, für den die Veranstaltung in Berlin der letzte Anstoß zur Umsetzung war.

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Andrea Schültke, Sportschau, 13.07.2019 19:05 Uhr

"Zentrum für Safe Sport" nimmt Formen an

Auch eine andere Idee nimmt seit einem Jahr immer konkretere Formen an: ein unabhängiges "Zentrum für Safe Sport", vorangetrieben von der Athletenvertretung "Athleten Deutschland". Dieses Zentrum soll laut einem Ideenpapier der Interessenvertretung komplett unabhängig sein und so etwas wie ein Dach werden, unter dem viel zusammenlaufen kann: eine Anlaufstelle für Betroffene von Gewalt, wo diesen Rat und Hilfe vermittelt werden kann, aber genauso auch eine Stelle, bei der sich Sportverbände informieren können über Fragen zum Thema.

Das Zentrum soll ein Netzwerk sein, in dem Wissen gebündelt werden soll, vorhandene Präventionsmaßnahmen extern auf ihre Wirksamkeit überprüft werden können, Aufarbeitung von Gewalt angestoßen und begleitet werden und Taten sanktioniert werden können. Einige politische Parteien haben die Unterstützung dieses Zentrums bereits in ihr Programm für die zurückliegende Bundestagswahl aufgenommen, andere offen ihre Unterstützung formuliert, berichtet Maximilian Klein von "Athleten Deutschland".

BMI favorisiert Mischfinanzierung

Klein hatte die Idee für das Zentrum vor einem Jahr in Berlin vorgestellt und unter anderem eine "Machbarkeitsstudie" vorgeschlagen. Das für den Sport zuständige Bundesinnenministerium hat diese Idee aufgegriffen und diese Studie in Auftrag gegeben. Mit dem Ergebnis werde laut Ministerium Mitte Dezember gerechnet.

Sollte es eine Entscheidung dafür geben, "käme nach Ansicht des BMI vorrangig ein Modell der Mischfinanzierung – unter Beteiligung von Bund, Ländern und des organisierten Sports – in Betracht". Auch große Sportverbände wie die im Turnen oder Schwimmen sehen die Notwendigkeit einer solchen unabhängigen Institution und haben sich dafür ausgesprochen.

DOSB ist außen vor

Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB), die Dachorganisation des deutschen Sports, scheint bei diesem Thema dagegen außen vor. An ihm laufe die Diskussion dazu ganz oder teilweise vorbei. "Vorschläge, wie das Impulspapier von Athleten Deutschland zum Zentrum für Safe Sport, wurden vom DOSB nicht aufgegriffen", heißt es in einer Zusammenfassung einer verbandsinternen Arbeitsgruppe.

Und auch bei den zahlreichen Vernetzungstreffen mit Beteiligten aus Ministerien, Betroffenen und Verbänden sei der DOSB zwar vertreten gewesen, habe aber die meiste Zeit geschwiegen, berichten Beteiligte. Aus Sicht von Betroffenen noch gravierender: Vor einem Jahr hatte DOSB-Vizepräsidentin Petra Tzschoppe beim Hearing öffentlich angekündigt, Betroffene aus dem Sport mit Hilfe in Form von Sachleistungen zu unterstützen. Dafür werde der DOSB seine vor fünf Jahren eingestellte Zahlungen in das "Ergänzende Hilfesystem" wieder aufnehmen. Bisher ist es bei Versprechungen geblieben.

"Leer und inhaltslos"

Das habe ihr ohnehin schon geringes Vertrauen in den Dachverband noch mehr geschädigt, stellt die ehemalige Fußballerin Nadine fest. Auch sie hatte bei der Veranstaltung in Berlin - wie Gitta Schwarz - öffentlich gesprochen und die Ankündigung der DOSB-Vizepräsidentin gehört. Ein Jahr später bilanziert sie: "Für mich waren die Worte, die dort gefallen sind, leer und inhaltslos. Man hat das Hearing benutzt, um die Emotionen mitzunehmen und sich daran zu hängen. Aber Taten sind überhaupt keine gefolgt."

Nach Informationen der Sportschau hat es seit der Ankündigung vor einem Jahr lediglich vier Treffen des organisierten Sports mit dem für das "Ergänzenden Hilfesystem" zuständigen Bundesfamilienministerium gegeben. Dennoch weist Petra Tzschoppe Kritik zurück. Der DOSB stehe weiter zu seinem Wort. "Der aktuelle Stand ist, dass wir für die derzeit vorliegenden Anträge zum Ergänzenden Hilfesystem aus dem Kontext Sport aus den Mitteln der Stiftung Deutscher Sport Zahlungen leisten werden", so die DOSB-Vizepräsidentin gegenüber der Sportschau.

Gesellschaft muss "hinsehen und hinhören"

Eine Vereinbarung dazu ist laut Familienministerium noch nicht unterschrieben. Von der Prüfung der Anträge bis zum Erhalt der Leistungen dauert es erfahrungsgemäß zwei Jahre und länger. Ein Konzept für Betroffene aus dem Sport, die jetzt Anträge stellen wollen, gibt es auch ein Jahr nach der Ankündigung des DOSB nicht. Das Ganze ist bis nach der Neuwahl des DOSB-Präsidiums Anfang Dezember verschoben.

Für Betroffene ein unhaltbarer Zustand. Dennoch zieht die ehemalige Fußballerin Nadine ein Jahr nach der Veranstaltung in Berlin eine positive Bilanz: Das Thema sexualisierte Gewalt werde viel mehr wahrgenommen und ernster genommen. Sie selber sei um Mitarbeit in verschiedenen Gremien gebeten worden: "wo ich ja vielleicht mehr erreichen oder etwas anstoßen kann".

Auch Gitta Schwarz arbeitet daran, etwas anzustoßen und auch andere Betroffene zu ermutigen, ihre Geschichte zu erzählen. Ihr sei wichtig, "dass die Gesellschaft hinsieht und hinhört. Unsere Geschichten sind passiert. Es sind viele und sie sind einfach viel zu wichtig, um sie nicht zu erzählen".