Der Theodulgletscher am Matterhorn im August 2020

Gletscher-Abfahrt am Matterhorn Superlativ-Weltcup eingeholt von der Realität

Stand: 20.10.2022 08:41 Uhr

Es soll ein Rennen der Spitzenklasse sein, der erste Weltcup, der über eine Landesgrenze führt: die neue Gletscher-Abfahrt am Fuße des berühmten Matterhorns mit Start in Zermatt, Schweiz, und Ziel in Cervinia, Italien. Nach Sölden, wo am Wochenende der alpine Saisonauftakt ansteht, soll sich Zermatt-Cervinia als zweites frühes Gletscher-Rennen im Kalender etablieren. Für den 29. und 30. Oktober ist der Start der Männer geplant, die Frauen sind eine Woche später an der Reihe.

Doch während Sölden früh startklar war, steht die groß angekündigte Premiere am Matterhorn auf der Kippe, weil die Temperaturen zu hoch sind und Schnee fehlt. Nach einer Schneekontrolle am Sonntag (16.10.2022) hat der Ski-Weltverband FIS entschieden, erst am Samstag, 22. Oktober, nach einer finalen Schneekontrolle über eine Austragung zu entscheiden. Die Wettervorhersage sei gut, schreibt die FIS, deshalb bekämen die Veranstalter noch eine Woche mehr Zeit.

Die Strecke verläuft in den ersten beiden Dritteln auf dem Theodulgletscher, dort seien die Bedingungen bereits gut. "Nur auf dem letzten Abschnitt der Strecke fehlt der Schnee", teilte die FIS mit. "Es werden weiterhin zwei bis drei kalte Nächte benötigt, um die Piste vom Start bis ins Ziel fertigzupräparieren." Es kursieren Fotos des Zielbereiches, die wenige Tage alt sind. Statt Schnee sieht man eine Geröllwüste.

Kein Temperatursturz in Sicht

Zuletzt lagen die Temperaturen am Bergsee Laghi Cime Bianche, wo der Zielbereich liegt, tagsüber bei acht Grad. In den kommenden Tagen soll es zwar kälter werden und auch Schnee ist angekündigt. Aber selbst nachts fallen die Temperaturen laut Vorhersage bis Sonntag kaum unter den Gefrierpunkt.

Das Problem war angesichts des Klimawandels abzusehen. In der Alpenregion steigen die Temperaturen seit Jahren besonders stark und der Sommer 2022 brachte rekordverdächtige Hitze. Die Gletscher litten stark, auch in Zermatt. Dort läuft der Skibetrieb sonst ganzjährig, dieses Jahr standen zwischenzeitlich die Lifte still. Die Gletscherspalten waren zu groß, die Schneedecke zu dünn.

Snowboard-Team verzichtet auf weite Reise

Das hatte auch Folgen für die Profi-Wintersportler. Beispielsweise konnten die deutschen Snowboarder nicht mehr wie im Vorjahr in Zermatt trainieren. Sie verzichteten aber auf weite Flüge in andere Skigebiete. "Wir alle haben gesehen, welche Auswirkungen der Klimawandel weltweit auf die Gletscher hat. Wenn wir jetzt zum Training nach Südamerika fliegen würden, wären wir ja Teil des Problems und nicht der Lösung", sagte Michael Hölz, Präsident des deutschen Snowboard-Verbandes.

Weltweit schmolzen die Gletscher deutlich, Bayern erklärte den Südlichen Schneeferner auf dem Zugspitzplatt für tot, am Dachstein-Gletscher bei Schladming fällt die Ski-Saison im Herbst und Winter aus. Ob der Betrieb je wieder aufgenommen wird, ist unklar.

"Wir werden die Gletscher verlieren"

Vielerorts, zum Beispiel am Hintertuxer Gletscher, versuchen die Skigebietsbetreiber seit Jahren, das Eis mit Hilfe von riesigen Plastikplanen und künstlicher Beschneiung zu schützen. Doch das sei mit Blick auf die Zukunft der Gletscher nur ein Tropfen auf den heißen Stein, sagt die Professorin Ulrike Pröbstl-Haider im Sportschau-Interview.

Pröbstl-Haider lehrt an der Akademie für Bodenkultur in Wien und beschäftigt sich seit Jahren mit Naturschutz-Aspekten im Wintersporttourismus. "Den Gletscher retten kann man auf diese Weise nicht. Wir werden die Gletscher verlieren, die Zahlen sind alle sehr eindeutig, nicht nur für den Alpenraum, sondern weltweit, ob in Neuseeland oder in Australien."

Die Zögerlichkeit des Ski-Weltverbandes FIS

Dass die FIS nun bis zuletzt versucht, das Matterhorn-Rennen durchzuziehen, mag auch daran liegen, dass eine Absage die nächste Hiobsbotschaft wäre. Es passt in das Bild, das der Weltverband seit Jahren im Bereich Klimaschutz abgibt. Der ehemalige Langzeit-Präsident Gian Franco Kasper äußerte noch 2019 Zweifel am Klimawandel, ruderte später nur halbherzig zurück.

Sein Nachfolger, Johan Eliasch, hat sich Klimaschutz zwar groß auf die Agenda geschrieben. In der Realität ist davon allerdings noch wenig zu sehen. Der alpine Weltcup-Tross reist dieses Jahr zwei- statt einmal nach Nordamerika. Zudem startete die FIS Indoor-Veranstaltungen in der Skihalle von Dubai und will ihren CO2-Abdruck mit Hilfe einer dubiosen Regenwald-Initiative schönrechnen.

Sportliche Bedenken

Auch sportlich steht die Abfahrt von Zermatt nach Cervinia stark in der Kritik. Sportschau-Experte Felix Neureuther äußerte Bedenken über den frühen Zeitpunkt im November. Da die Speed-Spezialistinnen und -Spezialisten nun rund einen Monat früher als bisher einen Wettkampf haben, müssten sie auch früher mit dem Training beginnen - mit entsprechend großem Aufwand und weiten Reisen.

Ähnlich wie Neureuther plädiert auch der deutsche Alpinchef Wolfgang Maier dafür, auch Sölden weiter nach hinten zu legen, den Saisonstart so zu verschieben, dass Schneesicherheit noch halbwegs gewährt ist. "Wir fangen erst Anfang, Mitte November mit dem Weltcup an und fahren dann nur bis Mitte März. Wir müssen das einfach akzeptieren." Der frühe Saisonstart in Sölden war einst auch auf Wunsch der Skihersteller eingeführt worden, um Fans und Kundschaft zu signalisieren: Achtung, die Wintersportsaison steht vor der Tür.

Verletzungsgefahr und starker Wind

Kritik am Rennen in Zermatt kam auch von aktiven Sportlern wie Dominik Paris. "Wir reden immer wieder darüber, wie man unseren Sport sicherer machen könnte. Ich glaube aber nicht, dass es der Sicherheit dient, wenn man zu Beginn eines Weltcup-Winters auf einer Höhe von 4.000 Metern eine Abfahrt startet, deren Laufzeit zweieinhalb Minuten beträgt", sagte Paris der Schweizer Zeitung Blick.

Sein Teamkollege Beat Feuz merkte zudem die rauen Bedingungen an. "Man darf einfach nicht vergessen, dass in dieser Höhenlage selbst bei sehr schönem Wetter der Wind eine Rolle spielt. Und ein bisschen fair sollte das Rennen ja dann auch noch sein."

Zweieinhalb Minuten statt vier Stunden

Wer alle Kritikpunkte außen vor lässt, findet sicher Gefallen an dem spektakulären, sportlich anspruchsvollen Ritt durch eine wunderschöne Hochgebirgslandschaft. Mit dem Auto braucht man von Zermatt nach Cervinia mehr als vier Stunden, auf Skiern nur zweieinhalb Minuten. Doch die Frage bleibt, wie sinnvoll es ist, derart viele Kritikpunkte einfach auszublenden.