Turnen | Sexualisierte Gewalt Sexualisierte Gewalt: Haftstrafe für Turntrainer

Stand: 24.03.2022 18:53 Uhr

Das Landgericht Erfurt hat einen ehemaligen Turntrainer zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und zwei Monaten verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Mann seine Turnerinnen, teilweise noch Kinder, sexuell missbraucht und genötigt hatte.

In seiner Urteilsbegründung ließ Richter Holger Pröbstel keinen Zweifel daran: Das, was der Mann seinen Turnerinnen angetan hat, ist nie wieder gutzumachen. Die Stellungnahmen der Betroffenen während der Verhandlung hätten ihn nachhaltig beeindruckt und er sei ihnen außerordentlich dankbar, sagte Pröbstel.

Langer Weg zum zweiten Urteil

Einige der betroffenen Turnerinnen hatten in den ersten Verhandlungstagen geschildert, wie es ihnen heute geht, oder hatten sich schriftlich geäußert. Von Kraft und Energie, die dieser Prozess gekostet habe, war da die Rede, von Ohnmächtigkeit und vielen Therapiestunden. Und von dem langen Weg, den die ehemaligen Sportlerinnen bis zum heutigen Urteil hinter sich haben.

Vor sechs Jahren hatte eine Betroffene Anzeige erstattet. Acht weitere junge Frauen schlossen sich als Nebenklägerinnen an. Ein erstes Urteil 2018 hatte der Bundesgerichtshof wegen gravierender Fehler in Teilen aufgehoben. Ein neues Verfahren wurde erforderlich.

Nach all den juristischen Fehlern und den vergangenen Jahren habe sie mit einer geringeren Strafe gerechnet, schreibt die ehemalige Turnerin, die mit ihrer Anzeige den Fall ins Rollen gebracht hat. "Dass der Richter nun ein Signal setzen möchte und sich klar positioniert freut mich. Insgesamt jedoch ist das Urteil aus meiner Sicht in keiner Weise mehr als ein Trostpreis."

Erneute Revision möglich

Eine ihrer Mitstreiterinnen hatte während der Verhandlung gesagt: "Ich will, dass es ein Ende hat." Eine weitere Verlängerung des Verfahrens sei für sie unerträglich. Eine Bewährungsstrafe, wie sie die Verteidiger für seinen Mandanten gefordert hatten, hätte das Verfahren beenden können.

Viele Prozessbeobachter gehen nach dem neuen Urteil daher davon aus, dass der Angeklagte wie schon 2018 erneut in Revision gehen wird. Das würde bedeuten: erneutes Warten auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs. Nach dem ersten Verfahren hatte das fast zwei Jahre gedauert.

Richter vermisst Reue des Angeklagten

Bei allem Verständnis für die Betroffenen war für Richter Pröbstel eine Bewährungsstrafe dennoch "das völlig falsche Signal". An den Angeklagten gerichtet sagte er: "Ich habe von Ihnen kein Wort der Reue gehört und bezweifele, ob Sie überhaupt verstanden haben, was Sie getan haben. Von einer Haftstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt wird, sind sie meilenweit entfernt."

Die neun Nebenklägerinnen sind nach Ansicht des Richters "nur die Spitze des Eisbergs". Nicht nur er geht davon aus, dass es deutlich mehr betroffene Turnerinnen gibt, die sich bisher nicht geäußert haben. "Das ist eine ganze Generation von Turnerinnen, die da beeinflusst wurden", so Pröbstel.

Auch wenn es jetzt für ihre Mandantin und die weiteren Nebenklägerinnen wohl immer noch nicht zu Ende ist, ist Rechtsanwältin Nadine Maiwald mit dem Urteil zufrieden. Eine Bewährungsstrafe hätte ihrer Ansicht nach das Vertrauen in das Rechtssystem erschüttern können. "Die Kammer hat in ihrer Urteilsbegründung gezeigt, was Missbrauch bei Betroffenen verursacht und dass da durchaus höhere Strafen angemessen sind."

Auch eine Fortsetzung des Verfahrens würden die Betroffenen durchstehen, signalisiert die junge Frau, die die Anzeige erstattet hat, gegenüber sportschau.de. Sollte der Angeklagte in Revision gehen, "werden die anderen Betroffenen und ich auch die nächsten Jahre weiter dafür kämpfen, dass er endlich für seine zahlreichen Taten geradestehen muss. Ich fühle mich durch unseren Zusammenhalt und auch das Urteil gestärkt und hoffnungsvoll." 

Kritik am Verein

Im Laufe des Verfahrens war auch massive Kritik am HSV Weimar deutlich geworden, dem Verein, für den der Trainer jahrelang tätig war. Richter Pröbstel artikulierte in der Urteilsbegründung deutliches Unverständnis darüber, dass der Angeklagte im Verein etwa als "Dr. Love" bekannt war, aber niemand etwas mitbekommen haben wollte, von dem, was in dessen Turngruppe vorging.

In ihren Stellungnahmen hatten Betroffene kritisiert, dass niemand von den Verantwortlichen, von Eltern über Trainer bis hin zum Vereinsvorstand sich bei ihnen entschuldigt habe. Eine ehemalige Turnerin sieht in allen, die etwas gesehen, bemerkt, aber nicht gehandelt haben Mittäter*innen.

Die Verantwortlichen des HSV Weimar mit seinen knapp 2.000 Mitgliedern werden all das nur aus den Medien erfahren. Niemand aus der Führungsetage des Vereins war beim Prozess vor Ort. Für Annette Görg, Fachberaterin vom Kinderschutzdienst Weimar "sehr bedauerlich". Gemeinsam mit ihren Kolleginnen hatte sie einige der betroffenen Turnerinnen während der vergangenen Jahre unterstützt.  

Sie hätte es wichtig gefunden, dass Verantwortliche des Vereins den Prozess verfolgt hätten um zu hören, "wie ging es den Mädchen damals und um daraus zu lernen und zu überlegen, was können wir denn anders machen und was brauchen Kinder und Jugendliche, damit sie sich wirklich sicher fühlen im Verein".

Sexueller Missbrauch im Sport - Das große Tabu

Andrea Schültke, Sportschau, 13.07.2019 19:05 Uhr